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Kurz vor
der Stille
© Dr. Martin Gesing (Stadtmuseum Beckum)
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Kurz vor der Stille ist eine von Benedikt Birckenbach
selbstgewählte programmatische Umschreibung seiner
derzeitigen bildhauerischen Arbeit. In den letzten Jahren
hat er zu verschiedenen Werkgruppen gefunden, die von
eigenständigem plastischem Ausdruck sind und doch ihre
gemeinsame Herkunft - natürlicherweise - nicht verleugnen
können und auch gar nicht wollen. Die verschiedenen Gruppen
fasst er unter den Sammelbegriffen Cantos, Rippen später,
Wahlverwandtschaften, Vertigos, und Glocken zusammen. In
dieser Reihenfolge sind sie entstanden, bei aller
Komplexität und gegenseitiger Durchdringung, mit allen
Fortschritten und Rückgriffen, die selbstverständlich
Bestandteil kreativer Arbeit sind. Bevor sie hier
vorgestellt werden, sollen einige allgemeine Bemerkungen zu
Benedikt Birckenbachs bildhauerischer Arbeit vorangestellt
werden.
Wichtigster Ausdrucksträger seiner Arbeiten ist Holz
in seinen unterschiedlichen materiellen wie auch
inhaltlichen Beschaffenheiten. Hierzu gehören zum einen die
unterschiedlichen Wuchsstrukturen des organisch gewachsenen
Holzes und zum anderen die unterschiedlichen Holzarten eines
Stammes (Rinde -, Splintholz -, Kernholz), die für ihn nicht
nur technische Herausforderungen darstellen, sondern auch
inhaltliche und zeitliche Qualitäten besitzen, denn sie
berichten von dem jahrzehntelangen Entstehen des Stammes,
bis ihm der Bildhauer eine endgültige Form und neuartige
Bestimmung verleiht. Diese Beschaffenheiten des Holzes
werden von Benedikt Birckenbach sowohl gezielt genutzt als
auch bewusst unterlaufen, um zu andersartigen Ergebnissen zu
kommen.
Wichtigstes Arbeitsgerät - neben den üblichen
Holzbearbeitungswerkzeugen - ist die Kettensäge, mit der die
wichtigsten Formelemente aus dem Stamm herausgeschnitten
werden, bevor eventuell im Detail nachgearbeitet werden
muss. Trotz der möglichen brutalen Vehemenz der Säge
gelingen ihm auch äußerst filigrane Schnitte, die
kontrastreich der grob belassenen Grundform einer Skulptur
gegenübergestellt werden können. Wo ihm das Holz als
Ausdrucksträger allein nicht ausreichend erscheint, kommen
weitere Materialien hinzu, wie zum Beispiel Farben oder
Ummantelungen aus Blei. Diese beiden Charakteristika -
Kontrast aus grober und filigraner Struktur und
Materialkombination - unterscheiden ihn von den zahlreichen
Bildhauerkollegen, die ebenfalls mit Holz und Säge arbeiten.
Bezeichnend ist auch, dass die von ihm präsentierten Formen
– mit Ausnahme der Installationen - in der Regel nur aus
einem einzigen Werkstück bestehen.
Ein weiteres grundlegendes Kennzeichen seiner Skulpturen ist
die Suche nach Raum, sei es der Körper einer Skulptur oder
der Binnenraum einer Form. Hierbei kommt er zu
verschiedenartigen Ergebnissen, zum Teil in Anlehnung an
historisch-abendländische oder auch außereuropäische
Traditionen. Hierin kennt er sich aus, denn er ist ein
aufmerksamer Beobachter derjenigen räumlichen Lösungen, die
andere bereits vor ihm gefunden haben. Deren Grundidee
greift er bereitwillig auf und setzt sie mit zeitgemäßen
Mitteln um, jedoch stets basierend auf den ihm wichtig
erscheinenden räumlichen Problemen. Die Teilung als
grundlegendes Prinzip der Bildhauerei wird hierbei ebenso
gezielt eingesetzt wie die Kombination. Binnenraum und
Außenraum können hierbei eine fast geheimnisvolle Symbiose
eingehen. Neben einfach erscheinenden Formen präsentiert er
auch rätselhafte Konstrukte, deren Entstehung aus einem
Holzstamm sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt,
sondern die in Form eines Rebus vom Betrachter erarbeitet
werden müssen.
Den organischen Wuchs des Holzes und die abstrakt
herausgearbeitete Form fügt er zu einem stets
ausdrucksstarken und spannungsvollen Dialog. Die materielle
Energie des Holzes und die physische Energie der
bildhauerischen Arbeit bilden folglich eine bedeutsame
Parallele. Neben der Bildung von dynamischen Räumen scheint
mir dies sein wichtigstes künstlerisches Anliegen zu sein:
die Dynamisierung der Form. Dieses Anliegen ist gewiss nicht
neu in der Kunst, wohl aber die Ergebnisse, zu denen
Benedikt Birckenbach kommt, und die Wege, die er hierzu
beschreitet. Rippen Die Rippen geben wohl am deutlichsten
seine künstlerische Vorgehensweise zu erkennen. Sie besteht
im wesentlichen darin, die jeweiligen Arbeiten aus dem Stamm
heraus zu entwickeln und diese Herkunft auch sichtbar zu
lassen. So kann der äußere Umfang des ursprünglichen Stammes
vom Betrachter nachvollzogen werden. Alter, Umfang und
mögliche Höhe des Baumes werden rekonstruierbar. Die
eigentliche Form der Rippen entsteht durch Wegnahme des
Binnenraumes, durch Aushöhlen des Kernholzes und Belassen
des Splintholzes, das in Scheiben zerteilt und oben getrennt
wird und so torsoähnliche Körper bildet. Diese liegen nun
als fragile Gebilde auf dem Boden. Die rippenförmigen Stege
ummanteln greifarmartig das nicht mehr vorhandene Innere.
Die Ummantelung erfolgt in doppelter Weise, denn auch das
Äußere der Skulpturen - schutzlos ohne die ursprüngliche
Rinde - wird von Blei umhüllt.
Assoziationsreich lagern die Rippen auf dem Boden,
röhrenartig, wie das Skelett eines noch unentdeckten
archaischen Lebewesens. Seine „Rippen“ werden gehalten von
einem breiter belassenen Steg, den man, wenn man figürlich
denkt, für die Wirbelsäure des Körpers halten mag.
Rasterartige Einschnitte öffnen den Torso und gewähren
Einblick in sein Inneres, das durch Wegnahme entstand. Das
Blei hingegen verschließt die Oberflächen wiederum, schützt
wie bei den anderen Werkgruppen die fragil wirkende Skulptur
vor äußeren Einflüssen.
Eines der wichtigsten Anliegen bildhauerischer Tätigkeit,
nämlich Auflösung von Masse und Volumen, Entstehung von
Binnenraum und inhaltsreicher Bezug zwischen Innen und
Außen, werden in dieser Werkgruppe facettenreich zum
Ausdruck gebracht.
Cantos Die Gruppe der Cantos geht zeitlich den Rippen
voraus. Auch sie geben unmissverständlich ihre Herkunft aus
dem Stamm zu erkennen. Diese Hilfestellung wird dem
Betrachter gegeben, weiteres hingegen entzogen. Denn die
Arbeiten lassen auf den ersten Blick offen, auf welche Art
und Weise die unterschiedlichen Formelemente der Skulptur
eigentlich zusammenhängen. Ist die Arbeit tatsächlich aus
einem einzigen Stamm gearbeitet oder wurde geschickt
kombiniert? Finden wir eventuell solche Hinweise am Holz
(wurde ein Stück angeleimt?) oder müssen wir tatsächlich
grübeln, wie man solche verschlungene Formen aus einem Stück
zustande bringt? In sich verschachtelte, mäandrierende
Formen bedingen sich gegenseitig, lösen und verknoten sich
wieder, erheben sich zu einer säulenartigen Stele oder
bleiben verknäuelt am Boden liegen. Laokoon in Holz - in die
Form eines Stammes gebannt.
Der Holzstamm als Urbild dieser Formblöcke bleibt erhalten.
Seine ehemalige Rundung findet sich in der Allansichtigkeit
dieser Arbeiten wieder. Um das Material jedoch zurück zu
nehmen, wurden einige Stücke mit Weiß übertüncht. Das macht
sie neutraler, denn nicht die Astlöcher oder andere
Wuchsstrukturen des Holzes sollen visuell dominieren,
sondern allein die vom Bildhauer gewollte Form, die
kunstreich dem Holz aufgezwungen wird. Bei aller Ambivalenz
zwischen Naturform und Kunstform werden sie so in Richtung
der letzteren gerückt, werden zum Artefakt.
Auch die Werkgruppe der Cantos ist geprägt durch die
Auflösung der Masse und das gegenseitige Durchdringen
einzelner Formen. Hierauf verweist auch der bezeichnende
Titel: Cantos - nur unzureichend mit Gesänge oder Melodien
übersetzt - beschreibt die der Musik gegebenen
Möglichkeiten, die der bildenden Kunst nur unzureichend
gegeben sind, nämlich das Durchdringen oder besser
Durchklingen von Mauern oder Wänden. Was in der Musik
selbstverständlich ist, muss im Bereich der bildenden Kunst
mit anderen Mitteln erreicht werden, zum Beispiel indem
Linien eine Fläche durchdringen und diese wiederum einen
Raum. Nur selten erfährt man die selbstverständlichen
Fähigkeiten der Musik mit anderen Mitteln.
Vertigos /Wahlverwandschaften Die Werkgruppe der Vertigos
wirkt wie eine Kombination der Rippen und der Cantos.
Verwirrspiel und Dynamisierung der Formen gehen Hand in Hand
und lassen im Ergebnis Arbeiten entstehen, deren Erstellung
mit akrobatischer Finesse erfolgte. Natürlich ist auch hier
der Holzstamm das Ausgangsprodukt, doch zu welchem Ergebnis
wurde das Rund des Stammes gesteigert! Drehen und wenden,
kippen und liegen, öffnen und schließen sind die immanenten
Charakteristika dieser Arbeiten. Virtuos offenbaren sie
sich, um im selben Moment auf ihr geheimnisvolles Inneres zu
verweisen. Vertigo - in etwa mit Schwindel (-gefühl)
übersetzt - besteht zwar nur aus gezielt geführten
Diagonalschnitten durch das Holz, doch sie wandeln die
Stille des Stammes in eine Dynamik der Formen.
Eine amorphe Reihe bildet der Wahlverwandtschaften betitelte
Zyklus. Sie sind Mischwesen besonderer Art und assoziieren
figurale Anklänge, die von tintenfischartigen Wesen bis hin
zu Sputniks reichen können. Was der einen Skulptur als
Tentakel entweicht, entpuppt sich bei der anderen als
raketenartiger Antrieb. Blei umhüllt ihre Oberflächen,
rasterartige Einschnitte mit der Säge öffnen sie hingegen
wieder. Die von Goethe literarisch gefasste Erkenntnis, dass
sich das in der Natur zu beobachtende Kräftespiel von
Anziehung und Abstoßung der Elemente auf das menschliche
Dasein übertragen lässt, hat Benedikt Birckenbach in seinen
Skulpturen zum Ausdruck gebracht.
Die Vertigos und die Wahlverwandtschaften wurden für eine
Aufstellung in Innenräumen geschaffen. Benedikt Birckenbach
steigerte ihre Wirkung in einer Arbeit für den öffentlichen
Raum und speziell für den Europaplatz in Siegburg. Ihr Titel
Pulau Kayu bezieht sich auf den Wiederaufbau eines Dorfes
auf Sumatra nach der Flutkatastrophe im Frühjahr 2005.
Wiederum definieren und dynamisieren organisch geformte
Rippen einen Binnenraum und bilden ein offenes Inneres.
Assoziationen an den Umriss von Inseln oder an die Form
eines Ohres mögen sich einstellen. Trotz der enormen Größe
von annähernd 6 m Länge und 3 m Höhe wirkt die Arbeit durch
ihre Linienstruktur leicht und filigran.
Glocken In den Glocken und in den ihnen nahe stehenden
Wahlverwandtschaften thematisiert Benedikt Birkenbach die
Binnenform, die geschlossene Form, das vor äußeren
Einflüssen geschützte Innere von Etwas. Inspiriert durch
glockenförmige Plastiken des buddhistischen Tempels
Borobudur in Indonesien (9. Jahrhundert) entstanden
Hohlkörper, die im weitesten Sinne als Glocken verstanden
werden können, obwohl sie natürlicherweise nicht zum Klingen
gebracht werden können. Dies war auch bei den Cantos nicht
der Fall und doch ergeben sich sinnreiche Bezüge zwischen
Musik und bildender Kunst. Der Klang der aus Holz
gearbeiteten Glocken ist nicht musikalischer, sondern
visueller Art. Eine dieser Glocken ist mit Blei ummantelt,
was wiederum Schutz als auch metallene Transformation
bedeuten kann.
Die glockenähnlichen Plastiken des indonesischen Tempels
sind keine Klangkörper wie bei uns, sondern haben eigentlich
die Aufgabe, eine Buddhastatue aufzunehmen. Sie sind
funktionaler Körper und definieren hierzu einen Raum. Die
Parallelglocken von Benedikt Birkenbach veranschaulichen
dies ebenso vielschichtig und mehrdeutig: sie sind
Hohlkörper und Hort eines Inneren, sie ermöglichen durch
Sehschlitze Einblick darin und geben trotz aller Offenheit
dieses Innere dennoch nicht preis.
Bezeichnenderweise fand kürzlich ein historisches Foto die
Aufmerksamkeit Benedikt Birckenbachs. Es zeigt auf dem Boden
gelagerte Glocken, die während des Zweiten Weltkriegs zu
Rüstungszwecken eingeschmolzen werden sollten. Von der Höhe
der Kirchtürme wurden sie auf die Erde herabgeholt und ihrer
eigentlichen Funktion beraubt. Auch sie müssen nun schweigen
- sind still geworden, obwohl jedermann um ihre eigentliche
Bestimmung weiß. Für Benedikt Birckenbach ist dies eine
signifikante Parallele zu seiner eigenen Arbeit, denn auch
er zwingt den Baum von der Höhe seines Wuchses auf die Erde
herab, um das Material einem Wandel, diesmal aber einem
Sinnreichen, zu unterziehen.
Die Stille kurz vor der Stille umschreibt das künstlerische
Anliegen Benedikt Birckenbachs sowohl wörtlich als auch im
übertragenen Sinne. Wenn die Werkzeuge schweigen und die
künstlerische Arbeit ruht wie auch der Bildhauer selbst,
kann das jeweilige Werkstück seine Aura entfalten. Auf
diesen glücklichen Augenblick hat der Bildhauer gewartet.
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